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HANDLERS TRAUM

Herr Feinkost-Handler hatte einst einen wunderbaren Traum. Ganz wohl war ihm beim Aufwachen, als er des Gesichtes gedachte. Mit beiden Beinen im Leben stehend pflegte Herr Feinkost-Handler – der eigentlich bloß Handler hieß, an sich selber aber gerne als den Feinkost-Handler dachte, so genannt der feinen Kost wegen, die er in seinem Laden anbot und die diesen über die Grenzen des Grätzels hinaus bekannt und beliebt gemacht hatte – pflegte sich also keineswegs Tagträumen hinzugeben.
Er träumte, wenn er überhaupt Zeit dazu fand, in der Nacht, wie es sich gehörte.
Jener Traum, der ihm solch ein erfülltes Erwachen beschert hatte und dessen er mit Wonne gedachte, weil in diesem Traum unter anderem Ordnung und Pflichterfüllung eine wesentliche Rolle gespielt hatten, war folgender:
Als er sich eines Morgens seinem Geschäfte näherte, sah er von weitem einen großen Geigenkasten und drum herum drei Lampenschirme.
Etwas später erst nahm er die drei kleinwüchsigen, in schillernde Seide gekleideten, gelbhäutigen und bezopften Herren aus, welche jeder einen Lampenschirm als Hut und miteinander den überdimensionalen Geigenkasten trugen und so vor Handlers Laden warteten.
Mit bedeutungsträchtiger Gemächlichkeit, die er seiner Würde und dem Ruf seines Geschäftes schuldig war, lüpfte Handler den Rollbalken, um schließlich umständlich die Tür zum Laden aufzuschließen. Im Laden drinnen harrten die drei dann geduldig in einer Linie vor der Pudel, bis Handler bedächtig seinen weißen Arbeitskittel übergezogen, einige Waren noch auf die richtigen Plätze getan hatte und den ersten endlich nach seinen Wünschen fragte.
Der bestellte und bekam eine Extrawurstsemmel mit einer Scheibe Emmentaler und einem Gurkerl sowie eine Flasche Bier.
Reis wollte er keinen.
Die zwei anderen trugen ebensolche Bestellungen in gleichermaßen akzentfreiem Deutsch vor und wurden ebenfalls zur Zufriedenheit bedient. Handler wunderte sich allerdings, daß die Herren selbst das für fernöstliche Zungen schwierige Wort „Gurkerl" tadellos auszusprechen vermochten.
Den dreien, nachdem sie den Laden verlassen hatten, folgten weitere drei ganz derselben Art.
Handler erinnerte sich genau, wie ihm der geträumte Gedanke gekommen war, daß jetzt mit der Wurst oder mit dem Käs was nicht gestimmt hat und die drei wohl reklamieren wollen.
Es stellte sich schnell heraus, daß es sich um drei ganz andere, neue gewissermaßen, handeln mußte. Wiederum bereitete Handler auf Wunsch seiner Kunden drei Extrawurstsemmeln mit Emmentaler und Gurkerl und verteilte drei Flaschen Bier.
Nach diesen dreien kamen wieder drei mit gleichen Anliegen und so ging das den ganzen Tag ununterbrochen, sodaß Handler kaum Zeit für die Stamm- und inländische Laufkundschaft finden konnte, die wie üblich mit allerlei Kleinkram und Anteilnahme bedient zu werden wünschte. Die alten Damen, welche immer wollen was sie immer wollen, die launischen, sparsamen Hausfrauen, die stets kleinste Mengen von möglichst viel Verschiedenem begehren, die eiligen Arbeiter, welche ganz schnell herzhafte Imbisse und geistige Getränke ordern, und diverse Ignoranten, die Korinthen, Zibeben und Sultaninen nicht voneinander zu unterscheiden wissen, sie alle mußte Handler heute etwas vernachlässigen.
Vor Feierabend versorgte Handler noch drei so exotische Herren mit Wurstsemmeln und Bieren und der letzte, den er schon förmlich aus dem Laden drängen mußte, meinte noch: „Wir schicken später die anderen auch vorbei".
Wohlwollend vernahm der träumende Handler die Kunde von den nächstens zu erwartenden Kunden und dann war er aus der Traum, der Handler so zufrieden, mit einem gewissen Glücksgefühl irgendwo im stattlichen Bauche, hatte erwachen lassen.
Der Gedanke hatte für Feinkost-Handler allerhand an Reiz, daß er sämtliche Chinesen mit Wurstsemmeln und Bieren würde versorgen dürfen.
Was könnte eher seine Existenz sichern.
Beim Frühstückskaffee und der dazugehörenden Zeitungslektüre staunte Handler nicht schlecht, als er da von den Chinesen zu lesen bekam.
Wie das, just heute und in jenem illustren Blatte, kann es vielleicht sein, daß er in diesem Zusammenhange, seherisch gewissermaßen...
Wie wir wissen, war Handler Realist.
Über eine Milliarde gibt es schon von denen, stand da.
Dies war einigermaßen aufschlußreich. So konnte sich Handler freilich das deutliche Zunehmen der Zahl von chinesischen Restaurants erklären. Selbst in seinem Grätzel gab es bereits zwei.
Das traumerinnerungsträchtige Lächeln wich allmählich, so schnell es eben des Greißlers an Gemächlichkeit gewöhntes Gehirn gewährte, einer von Nachdenklichkeit langgezogenen Miene.
Das jahrzehntelang geschulte Greißlerhirn begann zu kalkulieren, was alles zu besorgen sei, um dem Traum auch ein wenig praktisch gerecht zu werden: Als erstes wären eine Milliarde Semmeln notwendig, die könnten natürlich dann nicht immer krachfrisch sein, das müsset die Kundschaft schon einsehen.
Die Menge der Semmeln auszurechnen, war noch einfache Kopfarbeit. Auch die fünfzig Millionen Kisten Bier machten keinerlei kalkulatorische Schwierigkeiten. Alles Weitere aber wurde kompliziert. Derlei Ausmaße überschritten Handlers Horizont und kopfrechnerische Kapazität, jetzt mußte er doch die Rechenmaschine zu Hilfe nehmen.
Nun: ein Zweiliterglas Gurken beinhaltet zwischen zwoundsechzig und achtundsechzig Gürkchen, folglich im Schnitt fünfundsechzig solche, demnach müsset man fünfzehn Millionen dreihundertvierundachtzigtausendsechshundertfünfzehn Gläser Gurken besorgen.
Eine Stange Extrawurst von zwei Komma sechs bis zwei Komma acht Kilogramm hat die Länge von einem halben Meter. Wenn man also pro Wurstsemmel fünf Räder Wurst zu je einem Millimeter berechnet, so ergeben sich fünfhundert Millionen Zentimeter Wurst, ergo zehn Millionen Stangen Extra.
Wie ein Hieb an empfindliche Stelle traf Handler die Erkenntnis, daß bei jeder Wurst so zwei Zentimeter Anschnitt wegzurechnen seien, bei zehn Millionen Stangen Wurst wären das immerhin zwanzig Millionen Zentimeter respektive zweihundert Kilometer Anschnitt. Die Versuchung, einigen von den exotischen Kunden den Anschnitt verkaufen zu wollen, wurde angesichts dieser Unmenge übermächtig.
Allein wegen des Anschnitts würden nämlich vierhunderttausend Stangen Wurst mehr zu besorgen sein, von denen wiederum achthunderttausend Zentimeter Anschnitt übrig blieben, die sechzehntausend Extrastangen erforderten, von denen dann zweiunddreißigtausend Zentimeter Anschnitt verblieben, weswegen man noch sechshundertundvierzig zusätzliche Stangen... Handler fühlte sich in dieser Phase bereits etwas flau. Wohin mit solchen Massen von Anschnitt? dachte er, den Stammkunden könne man sowas auf keinen Fall anbieten, nicht zuletzt wegen dem Ruf des Geschäftes im Grätzel.
Noch mehr als vor der Imagination, all den Anschnitt selber verspeisen zu müssen, wie er es normalerweise praktizierte, graute Handler vor der, diese Massen von Wurst verkommen zu lassen, da konnte der Geschäftsmann doch gar nicht anders, als den Anschnitt der fernöstlichen Laufkundschaft heimlich in die Semmeln zu tun.
Was aber, wenn sich unter den Milliarden Chinesen herumsprach, daß Handler Anschnitt andrehe? Reputation und Renommee von Feinkost-Handlers Feinkost-Laden wären in Asien dahin – aber die Kassa würde stimmen, seis drum.
Beim Käs war die Sache wesentlich einfacher, den Käs durfte man voll verwerten. Ein Scheibchen von etwa null Komma sechs Millimeter pro Semmel, einmal zusammengelegt, würde genügen. Auf jeden Fall müsset man darauf achten, daß aus einem Zwei-Kilo-Stück Käse mindestens vierhundert Scheiben zu gewinnen seien. So brauchte man nicht mehr und nicht weniger als zweieinhalb Millionen Laibe Emmentaler.
Ganz abgesehen von Liefern und Lagern solcher Unmengen von Bier, Semmeln, Gurkerln, Extra und Käs ergab sich das Problem der Fertigung der Spezialextrawurstsemmeln.
Wenn man alles gut vorbereitete, dauerte das Herrichten einer solchen Semmel mit Extra, Gurkerl und Käse inklusive des Zahlvorganges etwa drei Minuten, in einer Stunde also ließen sich zwanzig Semmeln zubereiten und kommerziell weiterleiten. Bei Öffnungszeiten von sechs Uhr früh bis zwölf Uhr mittags und von fünfzehn bis achtzehn Uhr – an Samstagen nur vormittags – und eben dem Umstand Rechnung tragend, daß auch andere Kunden außer den Chinesen bedient werden wollten, würden wohl nicht mehr als hundertundfünfzig Semmeln pro Tag zu schaffen sein.
Im Jahr blieben ihm wegen der vielen Sonn- und Feiertage aber leider nur dreihundert Tage, die er sein Geschäft offen halten durfte, und darunter, es läßt sich nicht umgehen, auch noch zweiundfünfzig Samstage, die, Merkur seis geklagt, nur sechs Stunden zählten. Auf diese Weise könnte er, wie die Rechenmaschine meinte, pro Jahr bloß zweitausendfünfhundertvierundvierzig Stunden sein Geschäft betreiben, das ergäbe, bei einem durchschnittlichen Stundensemmelsatz von sechzehn Komma sechsundsechzig periodisch, zirka zwoundvierzigtausendvierhundert bediente Chinesen jährlich. Um alle zufriedenzustellen, müßte er dreiundzwanzigtausendfünfhundertvierundachtzig Komma neunhundertfünf Jahre im Geschäft stehen. An Urlaub war da nicht zu denken. Vielmehr würde er Hilfskräfte brauchen, und zwar vierhundertzwoundsiebzig tüchtige Leute, um die Sache wenigstens in den nächsten fünfzig Jahren unter Dach und Fach zu bringen. Eine Vergrößerung des Geschäftes und vor allem des Lagerraumes wären vonnöten, und dann dachte Handler an die diversen Scherereien mit Finanzamt und Sozialversicherung und nicht zuletzt den Dienstnehmern selber, die, wenn sie nicht gerade untereinander streiten, gegen ihn intrigieren würden. Wie sollte er jemals vierhundertzwoundsiebzig honette, ausgesucht freundliche, verträgliche und loyale Leute auftreiben, deren keiner je Erholung in Form von Urlaub oder Krankenstand benötigte. Das war ein Ding der Unmöglichkeit, soviel wußte er aus seiner Greißlerpraxis.
Überhaupt würden solch ungeheuerliche Veränderungen Handlers gesamtes Dasein umwälzen und ihm die lieben alten Gewohnheiten entreißen.
Nie wieder würde ihm sein „darfs ein bisserl mehr sein" unbeschwert über die Lippen kommen.
In dem Zeitungsartikel hatte Handler auch von der Hypothese gelesen, daß die Erde aus ihrer Bahn geworfen würde, wenn alle Chinesen gleichzeitig von Sesseln sprängen. Das konnte Handler nun sehr gut verstehen, wie leicht die Welt aus ihrer Bahn geraten könne; und all diese Gedankengänge waren geeignet, ein leichtes Grausen aufsteigen zu lassen in dem rechtschaffenen Manne.
Nach solch erschütternden Erkenntnissen war dem Handler der Tag zu letzer Letzt gründlich verdorben, er hatte wehmütig einsehen müssen, daß jener wunderbare Traum ein Alptraum gewesen war.

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