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MORAL

Es begab sich etliche zig Jahre nach einer gründlichen kulturellen und geistigen Revolution, im Zuge derer sich ein derart extremer Liberalismus entwickelt hatte, daß wieder Rufe nach den alten Werten laut wurden.
Indem sie sich auf das Bleibende beriefen, verlangten sie, daß nichts beim Neuen zu bleiben habe.
Einer der Wortführer der neuen Konservativen war der hochwürdige Herr Pfarrer Guttenbrunser, ein Landgeistlicher mit modrigem Charisma, welcher durch allerlei unglückliche Umstände, vor allem aber durch seine von Fanatismus durchtriebenen Predigten im TV, zu Berühmtheit gelangt war, und der sich vom Auffischen, Auffrischen und Auftischen obsoleter Moralbegriffe endlich wieder spannende Beichten versprach.
Er donnerte von seiner Kanzel herab viel von Verworfenheit der neuen Zeit, von Sittenstrenge und eben den althergebrachten Werten und vermengte diese mit jenem, was er selber so herbrachte und zu Wert machte.
Alle Menschen werden prüder, lautete eines der Schlagworte, und den Rechten war es recht so.
Her mit den Tabus, rief man allenthalben und alsbald, man mußte nicht lange warten, waren sie allesamt wieder da.
Man muß zugeben, in letzter Zeit hatte die sexuelle Freizügigkeit wirklich einige merkwürdige Blasen geworfen.
Irgendein spleeniger Mediziner hatte zum Beispiel das Gerücht aufgebracht, daß durch Bluttransfusionen von sexuell aktiven Männern diese Aktivität übertragen werden könne.
Dadurch waren Blutspenden von Herren, die den Damen in den Schoß fallen, außerordentlich beliebt geworden, ein regelrechter Markt war aufgezogen worden.
Doch die Herren spendeten Blut nicht so gern und so hatte man des öfteren in düsteren Gassen blutleere Galane liegen gefunden. – Dies war einer der übelsten Auswüchse der Hysterie gewesen.
Der bloße menschliche Körper spielte eine Zeit lang in der Werbung eine größere Rolle denn je, und sogar die Idee, Tiere für Futterwerbung kahlzuscheren, fand in gewissen Kreisen ihren Zuspruch.
Wo früher in Bädern und an Stränden die Winkel für die Anhänger der Freikörperkultur gewesen waren, knotzten und plantschten nunmehr verbittert jene, die nicht von ihrer Badehose lassen wollten.
Die Menschen waren frei.
Die Textilbranche stagnierte.
Von den Verbänden der Textilindustriellen erhielt denn auch der christliche Mediävist Guttenbrunser eifrigste Unterstützung, und der Begriff Moral nahm allmählich in die Werbung Einzug.
Man setzte vorerst durch, daß die Leute sich genügend zu verhüllen hatten, dann, daß das Kopulieren in öffentlichen Parks und Verkehrsmitteln untersagt wurde. Daraus entspann sich eine Kontroverse um den Begriff Verkehrsmittel, welche vom Obersten Gerichtshof schließlich zugunsten der Konservativen entschieden wurde.
Später sollten die einschlägigen Einschränkungen durch weitere Verbote weiter ausgebaut werden.
Gruppensex und Verein-Samung wurden untersagt und selbst das Treiben hinter beschlagenen Scheiben des eigenen Fahrzeugs stand bald unter Androhung strengster Strafen.
Mit einigem Einsatz gelang es den Liberalen gerade noch, ein Gesetz zu verhindern, welches das Kopulieren grundsätzlich untersagte.
Die allseits beliebten Vögelwettbewerbe wurden ohne viel Federlesens zuerst aus dem Vorabendprogramm des Fernsehens verbannt und durften zuletzt nicht einmal mehr in den Varietés ausgetragen werden.
Die Nackedeis auf den Plakaten wurden nach und nach überklebt. Die Zensur gab sich keine Blöße mehr. Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Klerisei, wo die paradiesische Nacktheit seit jeher als Dorn in der Krone angesehen ward.
Der Abschaffung von Interessensvertretungen der Prostituierten folgte die Abschaffung der Prostitution an sich – eine halbe Sache, wie sich denken läßt – und in weiterer Folge wurden auch das Wort Prostitution und seine sämtlichen Synonyme sowie insgesamt all das, was Guttenbrunsers Mannen und Verbündete als Unflat bezeichneten, aus dem Sprachschatz verbannt.
Die neuesten Wörterbücher waren durchgeputzt und reingewaschen. Dem puritanischen Purismus fielen allerdings auch recht harmlose Wörter wie zum Beispiel „penetrieren" oder Wortformen wie der Dativ des Plurals von Vogel zum Opfer.
Der deutsche Wortschatz wurde, Fremdwörter mitgerechnet, um etwa dreiunddreißigtausend Wörter ärmer.
Akte wurden übermalt oder verschwanden ganz aus Galerien und Museen.
Nackte darstellende Statuen verpackte man in Sackleinen.
Klerikale Pyromanen trugen zusammen, was ihnen an Gedrucktem flambierenswert erschien: Sexualkundeunterlagen, erotische Literatur, Hochglanzmagazine und Postkarten.
Auch hier gab es überwuchernde Auswüchse. So verbrannte man hier und da sicherheitshalber und weil man sich nicht die Mühe machen wollte, sich eingehender mit der Materie zu befassen, auch Bücher moralisch einwandfreien Inhalts, nur weil um die Autoren gewisse Gerüchte kursierten. Die Verbrennung des Buches „Bambi" von Felix Salten war hierfür ein bezeichnendes Beispiel.
Geschlechtertrennung galt strikte in Schulen und im Bereich der Medizin: Ärzte und Ärztinnen durften nur mehr Gleichgeschlechtliche untersuchen, und selbst dafür gab es vielerlei Beschränkungen.
Das Dozieren von Medizinischem gestaltete sich in letzter Zeit überhaupt recht schwierig, weil vermieden werden mußte, zu sehr Bezug auf den menschlichen Körper zu nehmen.
Die Morallüsternen führten ein strengeres Regiment als je zuvor. Bald fand niemand mehr etwas dabei, wenn man Exhibitionisten lynchte, und an Hexenverbrennungen ward auch schon gedacht.
In der islamischen Welt schüttelten sie die Köpfe ob solch altertümlicher Anschauungen und Vorgangsweisen, welche die Giaurs da neuerdings zu pflegen pflegten.
Und bei uns war alles beim Mittelaltem.

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